Contergan: Spricht der Skandal für oder gegen Tierversuche?

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Der Contergan-Skandal gilt als eine der größten Pharmakatastrophen des 20. Jahrhunderts. Tausende Kinder wurden mit schweren Missbildungen geboren, nachdem ihre Mütter das Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid eingenommen hatten.

In diesem Blogartikel werfen wir von PETA Deutschland einen Blick darauf, was der Skandal für den Tierschutz bedeutet, ob der Vorfall eher für oder gegen Tierversuche spricht und beleuchten die Rolle, die Tierversuche in der damaligen Medikamentenentwicklung gespielt haben.

Was ist der Contergan-Skandal?

Contergan wurde zwischen Oktober 1957 und November 1961 von der Firma Grünenthal als anfänglich rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere vertrieben. Allerdings führte die Einnahme des Medikaments im ersten Schwangerschaftsdrittel zu schweren Fehlbildungen bei Neugeborenen, darunter verkürzte Gliedmaßen und Organschäden. Schätzungen zufolge wurden weltweit etwa 10.000 Kinder mit Fehlbildungen geboren. 

Der Skandal um das Medikament führte zu einer verstärkten Kontrolle von Arzneimitteln und strengeren Zulassungsverfahren, um die Sicherheit von Medikamenten zu gewährleisten.

Inwiefern ist die Contergan-Tragödie für den Tierschutz relevant?

Die Contergan-Tragödie ist für den Tierschutz relevant, weil sie die Debatte über die Zuverlässigkeit und ethische Rechtfertigung von Tierversuchen beeinflusst hat. Immer wieder ziehen Tierversuchsbefürwortende die Pharmakatastrophe der 60er-Jahre als Pro-Argument für die Notwendigkeit von Tierversuchen heran – und das, obwohl es damals möglicherweise bereits Versuche an schwangeren Tieren gab, die die Katastrophe jedoch nicht verhinderten.

Spricht der Contergan-Skandal für oder gegen Tierversuche?

Zwar hat der Contergan-Skandal dazu geführt, dass bei der Zulassung neuer Medikamente noch strenger vorgegangen wird und mehr Tierversuche verlangt werden – Stichwort Teratogenität.

Jedoch reagieren Tier und Mensch oft völlig unterschiedlich auf Thalidomid. Der Contergan-Skandal verdeutlicht, dass der Tierversuch keine Sicherheit bietet und Ergebnisse nicht auf den Menschen übertragen werden können.

Nachfolgend beleuchten wir ausführlich, warum der Skandal um Contergan uns bei den Bemühungen, Tierversuche durch zuverlässige Alternativen zu ersetzen, auch noch Jahrzehnte später bestärkt. Grundlage dieses Textes ist eine wissenschaftliche Publikation, deren Autor:innen sich auf über 200 wissenschaftliche Studien beziehen. [1]

Was ist Teratogenität?

Unter Teratogenität versteht man die Fähigkeit von äußeren Einflüssen wie Substanzen oder Umweltfaktoren, beim Embryo Fehlbildungen oder Fehlfunktionen von Organen zu verursachen. Darunter finden sich auch zahlreiche Arzneimittel, weswegen die Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft genau abgewägt und gut kontrolliert stattfinden soll. Das Wissenschaftsmagazin Spektrum schreibt: „Bei der experimentellen Prüfung der Teratogenität versagen Tierversuche häufig, da die Ansprechbarkeit auf Teratogene offenbar interspezifisch sehr unterschiedlich ist.“ [2] Trotzdem ist die reproduktionstoxikologische Prüfung (darunter fällt Teratogenität) im Tierversuch seit dem Contergan-Skandal für neue Arzneimittel vorgeschrieben.

Um die Hintergründe der oben genannten Argumente vollständig zu verstehen, müssen zunächst folgende Fragen geklärt werden:

Wurde Thalidomid vor seiner Zulassung an schwangeren Tieren getestet?

Kurz nach Bekanntwerden des Skandals wurden alle Dokumente vernichtet, die Tierversuche im Entwicklungsprozess von Thalidomid negieren oder beweisen hätten können. Verfechter des Pro-Arguments stützen sich jedoch darauf, dass der Skandal um Contergan verdeutlicht hat, dass umfangreich im Tierversuch getestet werden muss – auch auf Teratogenität, somit an schwangeren Tieren.

Aber: Man wusste zur Zeit des Contergan-Skandals längst, dass Wirkstoffe über die Plazenta in den Embryo gelangen können, und Tests zur Teratogenität waren bereits gängige Praxis bei der Prüfung von Arzneimitteln. Da die dokumentierenden Unterlagen jedoch vernichtet wurden, wird man nie mit Sicherheit sagen können, welche Tierversuche durchgeführt wurden – es ist jedoch wahrscheinlich, dass Thalidomid vor seiner Zulassung an schwangeren Tieren getestet wurde.

Das führt zur nächsten Frage:

Hätten mehr Tierversuche den Skandal verhindert?

Unabhängig davon, welche Tierversuche nun wirklich vor der Zulassung von Thalidomid durchgeführt wurden – hätte man die schrecklichen Auswirkungen bei Schwangeren im Tierversuch vorhersehen können?

Die wissenschaftliche Arbeit, auf die wir uns in diesem Text beziehen, setzt sich sehr ausführlich mit dieser Frage auseinander und kommt zu folgendem Schluss: Die spezifischen Missbildungen, die Thalidomid beim Menschen auslöst, können nur bei einzelnen Tierarten hervorgerufen werden. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Tests an schwangeren Tieren die schädliche Wirkung vorausgesagt hätten. Die Chance, dass eine der wenigen „geeigneten“ Tierarten in den Tests „eingesetzt“ worden wäre, ist gering. Die Behauptung, dass die Teratogenität von Thalidomid in Tierversuchen vorhergesagt worden wäre, ist wissenschaftlich nicht belegbar.

Diese Schlussfolgerung wird von den nachfolgenden Fakten untermauert:

  • Thalidomid wurde inzwischen in mindestens 10 Linien von Ratten, 15 Linien von Mäusen, 11 Kaninchenrassen, 2 Hunderassen, 3 Linien von Hamstern, 8 Primatenarten und in anderen vielfältigen Spezies wie Katzen, Meerschweinchen, Schweinen und Frettchen getestet – teratogene Effekte konnten dabei nur vereinzelt beobachtet werden.
  • Mäuse als typische „Versuchstiere“ entwickeln nicht einmal bei einer Dosis von 4.000 mg/kg Thalidomid die angeborenen Missbildungen, die bei Menschen schon bei einer Dosis von 0,5 mg/kg auftreten.
  • Die Studien, die in Bezug auf teratogene Effekte in Ratten immer wieder herangezogen wurden, werden FALSCH zitiert – kurz zusammengefasst sind die Effekte aus den Studien andere als die bei Menschen. Für weitere Details verweisen wir auf die unten genannte wissenschaftliche Publikation.
  • Hinzu kommt, dass angeborene Missbildungen in Ratten zu rund 95 Prozent von Wirkstoffen ausgelöst werden, die im Menschen keinen teratogenen Effekt zeigen. Ratten haben somit eine nahezu nicht vorhandene Vorhersagekraft bezüglich teratogener Effekte beim Menschen (in der Wissenschaft wird dazu der Wert PPV – positive predictive value – verwendet).
  • Zwar wirkt Thalidomid bei Primaten vergleichbar zum Menschen und löst angeborene Missbildungen der Extremitäten aus. Weiterführende Untersuchungen mit 15 bekannten menschlichen Teratogenen an nicht-menschlichen Primaten zeigten allerdings deren Unzulänglichkeit als Modell für den Menschen: Nur 8 dieser Wirkstoffe erzeugten auch in mindestens einer Primatenspezies teratogene Effekte – auch hier gleicht die Vorhersagekraft einem Münzwurf.
  • Bis zum Jahr 2004 waren in etwa 1500 Teratogene bekannt – beim Menschen wirken allerdings nur etwa 40 davon teratogen. Die Vorhersagekraft im Tierversuch ist diesbezüglich somit sozusagen nicht existent. Außerdem: Jeder Wirkstoff in entsprechender Dosis zum entsprechenden Zeitpunkt der Schwangerschaft wirkt in zumindest einer Spezies teratogen.

Was überdies erwähnenswert ist und die mangelnde Übertragbarkeit zwischen verschiedenen Tieren und dem Menschen noch betont: Die beruhigende Wirkung von Thalidomid konnte im Tierversuch nicht nachgewiesen werden. Jegliche Forschungsergebnisse in Bezug auf die Teratogenität von Thalidomid werden dadurch relativiert, dass diese auf Forschung NACH dem Contergan-Skandal zurückzuführen sind.

Somit ist die Aussagekraft und damit der Sinn dieser Versuche in Bezug auf Thalidomid und generell in Bezug auf Teratogenität mehr als fragwürdig. Unverständlicherweise wurden und werden Mäuse und Ratten trotz des fehlenden Effekts weiter als Modellorganismus missbraucht.

Was zeigt uns dieser Skandal in Bezug auf Tierversuche?

Die Behauptung, Tierversuche hätten die Teratogenität von Thalidomid vorhersagen können, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sogenannte Tiermodelle auch heute keine hohe Vorhersagekraft (PPV und NPV, positive und negative predicitve value) für die Beurteilung der Teratogenität oder anderer menschlicher Reaktionen auf medizinische Wirkstoffe haben.

Sicherheitstests von Medikamenten sind nicht der einzige Bereich, in dem Tierversuche keine Vorhersage menschlicher Reaktionen ermöglichen. Pharmakodynamik und pharmakokinetische Eigenschaften, also die biologische Wirkung von Medikamenten und die Vorgänge im Organismus, an Tieren zu testen, liefert keine sicher auf den Menschen übertragbaren Ergebnisse. Mechanismen bezüglich Krankheiten und der Reaktion darauf variieren ebenfalls beträchtlich.

Es wird also dringend Zeit, dass die Entwicklung von Alternativmethoden angemessen gefördert wird – im Sinne der Tiere und der Menschen. Glücklicherweise gibt es bereits erfolgreiche Innovationen, und auch immer mehr Wissenschaftler:innen sprechen sich inzwischen für ein Ende von Tierversuchen zur Medikamentenentwicklung aus.

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In Deutschland stirbt alle sieben Sekunden ein Tier durch Tierversuche. Weltweit leiden jährlich fast 200 Millionen Tiere – darunter Kaninchen, Mäuse, Ratten, Affen, Katzen, Hunde und Fische – in grausamen Experimenten. [4] Um dieses immense Tierleid in deutschen und internationalen Laboren zu beenden, haben wir gemeinsam mit unseren internationalen Partnerorganisationen den Research Modernisation Deal entwickelt.

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  • Quellen:

    [1] Greek R, Shanks N, Ric MJ. The History and Implications of Testing Thalidomide on Animals. J Philos Sci Law. 2011;11(3):1-32. doi:10.5840/jpsl20111133

    [2] Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Teratogene. Lexikon der Biologie. Spektrum. Zugriff am 10.10.2024. https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/teratogene/65834

    [4] Taylor K, Rego Alvarez L. An Estimate of the Number of Animals Used for Scientific Purposes Worldwide in 2015. Alternatives to Laboratory Animals. 2019;47(5-6):196-213. doi:10.1177/0261192919899853