Jahr für Jahr werden allein in deutschen Tierheimen etwa 390.000 Tiere aufgenommen. [1] Jedes dieser Tiere, egal ob Hund, Katze, Papagei oder Ratte, hat seine eigene Geschichte – und die ist oftmals ausschlaggebend dafür, wie schnell sich ein neues Zuhause finden lässt.
Häufig hinterlässt ein falscher Umgang der Halter deutliche Spuren im Leben des Tieres – so auch bei der männlichen Ratte Kiwi. Kiwi musste mehrfach umziehen, bis er endlich ein Zuhause fand, in dem er sich verstanden fühlt. Jasmin hat Kiwi bei sich aufgenommen und erzählt uns hier seine Geschichte.
Jasmin, was war mit Kiwi passiert, dass nach einer Familie gesucht wurde?
Kiwi wurde als Einzeltier in einem Tierheim in Baden-Württemberg abgegeben. Er war bereits seit der Trennung von seiner Mutter allein gehalten worden und war entsprechend schlecht sozialisiert. Schnell hatte er im Tierheim alle Pfleger mindestens einmal gebissen. Trotzdem wurde er zweimal vermittelt (vermutlich wegen seines relativ seltenen, gekräuselten Rex-Fells), aber jeweils nach kurzer Zeit wieder im Tierheim abgegeben, weil er auch seine Adoptiveltern gebissen hatte oder sich mit den dortigen Ratten nicht integrieren wollte.
Dieses Vermittlungsprozedere zog sich über ein ganzes Jahr hin, sodass Kiwi schon sehr alt war, als er zum dritten Mal adoptiert wurde. Die ständigen Umgebungswechsel, die Gewöhnung an neue Bezugspersonen und die fehlgeschlagenen Integrationsversuche hatten bei Kiwi sichtlich Spuren hinterlassen.
Wie kamst du dazu, Kiwi zu adoptieren?
Wir haben schon immer Ratten aufgenommen, die es in der Vermittlung eher schwer haben: alte und kranke Ratten oder eben Tiere, die lange einzeln gehalten wurden und deshalb schwer integrierbar sind. Das wissen natürlich auch die privaten Vermittlungsstellen und die Tierheime der Umgebung, sodass wir oft kontaktiert werden, wenn solche Ratten abgegeben werden.
So war es auch bei Kiwi. Seine dritte Adoptivstelle, bei der die Vergesellschaftung von Kiwi ins bestehende Rudel ein weiteres Mal scheiterte, wollte ihn nicht erneut im Tierheim abgeben. Sie war der Meinung, dass Kiwi in erfahrene Hände kommen und endlich einen ruhigen Lebensabend verbringen sollte. Deshalb kontaktierte sie die private Vermittlungsstelle, die sich wiederum an uns wandte. Noch in derselben Woche holten wir Kiwi dort ab.
Warum war es dir wichtig, ein Tier aus dem Tierschutz aufzunehmen?
Schon als Kind war ich im Tierschutz aktiv. Zusammen mit meinem Opa habe ich heimatlose Katzen eingefangen, kastrieren lassen und eine Futterstelle für sie eingerichtet. Dabei haben wir eng mit dem örtlichen Tierheim zusammengearbeitet, sodass ich schon früh Kontakt zu Vermittlungstieren hatte. Als ich zuhause auszog, kam mir meine neue Wohnung ohne Katzen sehr leer vor.
Da laut Mietvertrag aber nur die Haltung von Kleintieren erlaubt war, überlegte ich lange, welche Tierart zu uns und unserem Lebenswandel passen würde. Am Ende lief alles auf Ratten hinaus – eine sehr gute Entscheidung! Da ich schon immer Tiere aus dem Tierheim oder anderen Notsituationen aufgenommen habe, war von Anfang an klar, dass auch unsere Ratten aus dem Tierschutz kommen sollen.
Wie hat Kiwi sich verändert?
Kiwi hat uns einmal mehr gezeigt, dass Fehleinschätzungen von Haltern praktisch immer zu unerwünschtem Verhalten der Tiere führen. Gerade Kleintiere werden oft falsch eingeschätzt und bekommen dann vorschnell den Stempel „Problemtier“ aufgedrückt. Es ist so wichtig, seine Tiere zu beobachten, sie kennenzulernen und sich mit ihrer Mimik und ihrer Körpersprache auseinanderzusetzen.
Kiwi war alles andere als ein Rüpel. Er war stark verunsichert und brauchte dringend Halt und eine Bezugsperson, die Ruhe ausstrahlt. Vor anderen Ratten hatte er wahnsinnige Angst. Sein Körper war gezeichnet von Narben alter Bissverletzungen. Kiwi konnte das Verhalten seiner Artgenossen nicht einschätzen, weil er so lange allein gelebt hatte. Rattenstreitigkeiten werden eigentlich fast immer unblutig durch Beschwichtigungsgesten ausgetragen, wie z. B. auf den Rücken drehen oder Fellpflege.
Kiwi wusste aber nicht, wie er sich gegenüber einem dominanten Tier verhalten sollte, und so kam es zu vielen Beißereien. Da schnell klar war, dass er nicht in unser großes Rudel ziehen konnte, bekam er zuerst Gesellschaft von Raymó, einer weiteren männlichen Ratte, die ebenfalls sehr ruhig und schüchtern war.
Die beiden verstanden sich auf Anhieb wunderbar. Später nahmen wir noch sechs weitere männliche Ratten auf, die mit sechs Wochen noch jung genug waren, um den beiden älteren Herren spielerisch „normales“ Rattenverhalten beizubringen, ohne sie dabei einzuschüchtern. Die Kleinen wurden von Kiwi und Raymó adoptiert und liebevoll „aufgezogen“. Ich würde sagen, alle Beteiligten haben von dieser Integration profitiert.
Wie geht es Kiwi heute?
Kiwi ist eine ganz besondere Ratte. Er hat weder uns noch eine andere Ratte bei uns jemals gebissen. Es ist uns ein Rätsel, wie er zu seinem Ruf als Beißer gekommen ist. Er ist altersgemäß (schätzungsweise drei Jahre) sehr ruhig, schläft aber niemals alleine, sondern immer mit mindestens einem Rudelkollegen.
Am liebsten mag er Hängematten oder sein Haus aus einem umgedrehten Ton-Blumentopf. Kiwi ist sehr verschmust und lässt sich stundenlang hinter den Ohren kraulen. Dabei schläft er meist auf meinem Arm ein. Wir schauen abends gerne zusammen Netflix oder lesen ein Buch.
Was ist eure gemeinsame Lieblingsbeschäftigung?
Kuscheln auf dem Sofa und Clicker-Training.
Was Sie tun können
- Viele Tiere warten in Tierheimen sehnsüchtig auf ein neues, liebevolles Zuhause. Wenn Sie ein Tier bei sich aufnehmen möchten, suchen Sie bitte niemals Züchter auf, sondern setzen Sie sich immer mit dem örtlichen Tierheim in Verbindung.
- Wir setzen uns unermüdlich für bessere Bedingungen von „Heimtieren“ ein. Unterstützen auch Sie uns dabei, die Bedingungen für tierische Mitbewohner zu verbessern, indem Sie unsere Petition für ein Heimtierschutzgesetz unterschreiben.
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Quellen
[1] Deutscher Tierschutzbund: Hochrechnung 2005