Ukraine-Interview: Wie fühlt sich das Leben mitten im Krieg an?

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Seit Russland im Februar 2022 den Angriffskrieg auf die Ukraine startete, ist ein Team von PETA Deutschland im Einsatz, um Tieren und Menschen in Not zu helfen. So haben wir unter anderem Animal Rescue Kharkiv beim Aufbau einer temporären Tierklinik geholfen und beliefern die Gruppe regelmäßig mit Tiernahrung, um Charkiw und angrenzende Gemeinden möglichst gut zu versorgen. Die mutigen Tierschützer:innen fahren Tag für Tag in die lebensgefährlichen, gerade erst befreiten Dörfer und Gemeinden, um Tiere in Not zu bergen und zu versorgen.

Wir haben mit Igor Sobko, Deputy Head von Animal Rescue Kharkiv, über das Leben mitten im Krieg gesprochen.

PETA: Igor, bitte beschreibe uns einen Tag deiner Arbeit vor Ort, unweit der Front – inmitten von circa 800 bis 1.000 Tieren, die ihr derzeit als Verein in Obhut habt.

So ein Tag ist voller Aufgaben – im Überblick ist es ungefähr so: Anrufe werden am Telefon der ARK-Hotline entgegengenommen. Es sind stets Notrufe – Menschen melden uns, wo verletzte Tiere oder Tiere in Not sind. Dann fahren die Retter:innen umgehend los – das machen wir in der Region Charkiw. Wir retten das Tier oder die Tiere – was auch für uns gefährlich sein kann! Dann bringen wir sie in die Tierklinik, die PETA mit aufgebaut hat. Nach der Untersuchung in der Klinik wird entschieden, ob das Tier entweder in unsere Tierunterkünfte gebracht oder in der Klinik aufgenommen wird. An einem Arbeitstag erhält die Hotline ungefähr 70 bis 90 Anrufe. Es wird zudem separat an der Evakuierung von Tieren aus dem Donbass aus der Kampfzone gearbeitet.

Die Klinik ist von 8.00 bis 23.00 Uhr geöffnet – an sieben Tagen der Woche. Auch in unseren zwei – dank PETA – wundervoll ausgebauten Katzenwohnungen und den zwei Hundetierheimen wird gearbeitet. Die Tiere werden sauber gemacht, umsorgt, alles muss möglichst schön und immer ordentlich sein. Zudem haben wir ein Kastrationsprojekt und ein weiteres Team, das die Hunde und Katzen für die Ausreise fertig macht, alle Papiere zusammenstellt und prüft, chipt, Heimtierpässe ausstellt, alles kontrolliert – mit Tierheimen in Europa und mit Halter:innen in Kontakt steht.

Derzeit arbeiten 75 Menschen bei uns. Das Projekt gibt ihnen Hoffnung und den Tieren eine Zukunft!

PETA: So viele Tiere zu versorgen ist eine Herkules-Aufgabe! Wie groß ist ARK im Krieg geworden – weil die unendliche Not euch sozusagen auffordert, immer mehr zu leisten, um Tiere zu retten, zu versorgen, unterzubringen und dann zu vermitteln oder mit ihren Menschen erneut zusammenzubringen?

Vor dem Krieg hatten wir: 95 Katzen, 295 Hunde. Wir mussten sie alle aus der Schusslinie evakuieren. Unser Tierheim wurde zu Beginn des Krieges direkt zerbombt, leider sind dabei auch Tiere gestorben. Wir mussten auch allen Tieren der Menschen helfen, die plötzlich auf den Straßen waren – die immense Zerstörung hat sie heimatlos gemacht. Es gab Tausende Tiere, die in der am stärksten beschossenen Gegend (Saltovka) in Wohnungen eingesperrt waren. Menschen haben Türen geöffnet – damit sie dort nicht einfach sterben. Sie waren plötzlich überall – ohne Chance, ohne Hoffnung – wir haben sofort angefangen, sie in sichere Gebiete der Ukraine zu bringen und nach Europa. Zu Beginn des Krieges war das noch möglich, da es rechtliche Sonderlösungen gab – mittlerweile sind wir wieder bei den normalen Regularien, an die wir uns umfassend halten.

Ohne PETA wäre es uns nicht möglich, so vielen Tieren zu helfen – aktuell versorgen wir insgesamt ca. 1.000 Tiere – an jedem Tag, egal wie die Situation um uns herum gerade ist. PETA und der Global Compassion Fund ermöglichen uns, dass wir diese Strukturen überhaupt aufbauen konnten und nun halten können.

PETA: Welche Bedeutung hat die enge Zusammenarbeit mit PETA und PETAs Global Compassion Fund für eure Organisation?

PETA kennen wir seit mehr als 10 Jahren – von kleineren Projekten, zum Beispiel haben wir uns gemeinsam gegen den Hundemord zur Fußball-WM vor vielen Jahren engagiert. Wir haben PETA sofort bei Ausbruch des Krieges kontaktiert und evakuierten unverzüglich gemeinsam Tiere nach Europa – zuerst über Polen. Seitdem und bis heute ist die Zusammenarbeit die Grundlage unserer Arbeit hier vor Ort. Es geht nicht nur um finanzielle Unterstützung. Was ich an dieser gemeinsamen Arbeit am meisten schätze, ist Vertrauen. Einigkeit sehe ich im besonderen Verständnis unserer Arbeit, im guten Miteinander der Organisationen. Ich sehe, dass die Erfahrung von PETA es ermöglicht, die richtigen Absichten zu erkennen und strategisch die im Moment besten Entscheidungen gemeinsam mit uns zu treffen. Dank der Kooperation mit PETA können Sie, liebe Leser:innen, sehen, was wir hier vor Ort machen. PETA unterstützt uns in den schwierigsten Situationen – zum Beispiel auch, wenn wir für unsere Arbeit kritisiert werden. Denn nicht jeder hat Verständnis dafür, dass wir uns für Tiere einsetzen …

Die einheitliche Sichtweise besteht zum Beispiel darin, dass wir immer für jede Rettung offen sind – einen Plan machen, egal wie schwierig und egal unter welchen Umständen die Rettung stattfinden muss. PETA und ARK lassen NIEMALS ein Tier einfach zurück!

PETA: Ihr agiert auch in gefährlichen Gebieten – wie geht das Team damit um, wenn es gefährlich wird im Einsatz? Kannst du eine Situation beschreiben, die ihr erlebt habt?

Die Grundregel des Rettungsteams ist, Zeitpläne exakt einzuhalten. Wir versuchen, innerhalb strenger Zeitvorgaben zu arbeiten und wir arbeiten mit dem Militär zusammen. Dadurch reduzieren wir das Risiko, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein – denn das ist der Hauptgrund, wenn Menschen durch Artilleriefeuer sterben. Aber es gibt auch keine Garantie und keine Sicherheit – wir machen es so strategisch wie möglich. Wenn Sie in einem Evakuierungsteam arbeiten, bedeutet dies, dass Sie genau zum richtigen Zeitpunkt vor Ort sein müssen. Wir haben analysiert und verstanden, dass es für jede Evakuierung notwendig ist, einen Zeitraum festzulegen. Um ein Beispiel zu nennen, wie unfassbar wichtig das Timing ist: Während einer Evakuierung gab es eine brenzlige Situation, die Russen waren sehr nahe. Wir mussten genau um 9.00 Uhr abreisen, denn wir wussten, dass ab diesem Zeitpunkt Aufklärung und Beschuss beginnen würden. Aber wir hatten 15 Minuten Verspätung und gerieten unter schweres Mörserfeuer. Es war lebensgefährlich, aus dieser Situation herauszukommen – das Team kroch über den Boden und in die Gruben. Sie haben es geschafft – aber es war knapp. Wir sind uns dessen bewusst, wie nah wir dem Tod hier sind.

PETA: Ihr trefft viele Menschen, die alles verloren haben. Sie geben euch ihre geliebten Tiere mit, um sie zu retten. Welche Geschichte hat dich besonders berührt?

Am meisten berühren mich die Begegnungen mit Militärs, weil sie das Wertvollste geben – ihr Leben. Darüber hinaus: Sie finden, retten und pflegen Tiere. Sie machen sich große Sorgen um sie und freuen sich sehr, wenn wir sie ihnen abnehmen und an einen sicheren Ort bringen. Denn auf Dauer sind die militärischen Stützpunkte kein Ort, an dem Tiere adäquat versorgt werden können. Am meisten berührte mich die Situation, als der Soldat Andrey einige Katzen rettete: Sogar nachdem er verwundet worden war, suchte er nach einer Möglichkeit, sie zu retten und ihr Leben zu sichern. Leider starb Andrey durch Schüsse – aber wir versorgen die Katzen, die ihm so am Herzen lagen. Es gab auch eine Situation, in der wir einen Hund aus Bachmut evakuierten und er nicht mit uns gehen wollte. Er machte uns deutlich: „kommt mit“ – und zog seinen Retter in eine andere Richtung. Wir beschlossen, ihm zu folgen und er brachte uns in ein kaputtes Haus. Dort war eine Hündin, sie war zu schwach zum Laufen – sie ist seine Freundin. Natürlich haben wir beide mitgenommen und beiden geht es gut! Sie werden nur zusammen vermittelt.

Menschen helfen in der Ukraine

PETA: Für uns hier in Deutschland ist es schrecklich zu wissen, dass bei euch Krieg ist. Aber wir erleben es nicht – kannst du einen kleinen Einblick in deine Gefühle geben. Wie gehst du damit um, dass ständig Luftalarm ist, du und das Team Raketen am Himmel seht, ihr Detonationen hört – alles wird zerstört. Menschen, die ihr kennt, werden getötet – wie erträgst du das?

Es ist unmöglich, sich an den Verlust geliebter Menschen, Freund:innen und Bekannter zu gewöhnen. Ich kannte viele Menschen, die nicht mehr leben – sie waren alle sehr würdige und wundervolle Menschen. Das ist der schwierigste Teil dieses Krieges. Mir ist klar, dass der Krieg noch lange dauert, dass unsere Wirtschaft zerstört wird, dass es noch viel mehr Raketen geben wird. Wir zahlen in diesem Krieg einen sehr hohen Preis. Gleichzeitig freue ich mich, wenn wir Tiere retten und sie in Europa liebevolle Familie finden! Mehr als die Hälfte der Tiere können wir mit ihren Halter:innen wieder zusammenbringen – nachdem der Krieg sie trennte. Das sind sehr schöne und wichtige Momente und Erlebnisse für uns alle! Die Familien schicken uns Fotos von glücklichen Tieren, Fotos von zu Hause und in der Natur, wenn sie schöne Ausflüge mit ihnen machen. Diese Tiere haben Verrat und Beschuss überlebt und sind jetzt glücklich. Mir scheint, dass solche glücklichen Geschichten Inspiration zum Weiterleben und zur weiteren Ausübung der eigenen Arbeit hier vor Ort geben.

PETA: Was wünscht du dir von den Menschen, die dieses Interview lesen?

Für uns ist es wichtig, dass jeder Mensch, der diesen Artikel liest, das versteht: Wir leben und wir machen hier weiter! Schön wäre es, wenn sich die Menschen auch als Teil der Ukraine und des ukrainischen Volkes fühlen. Dann ist es wie ein Staatenaustausch auf Basis von Mitgefühl.

Und wir werden die Unterstützung all der Leser:innen spüren, die wir sehr brauchen. Der Krieg hat uns an einem einzigen Tag in eine neue Realität gebracht und uns Aufgaben gestellt, die unsere Kräfte manchmal auch übersteigen würden – wenn wir damit alleine wären.

Aber das sind wir nicht! Diese Erkenntnis, diese Unterstützung, die Kommunikation, der Austausch, die Hilfe – wir sind unendlich dankbar!

Unterstützen Sie unsere Arbeit in der Ukraine

Helfen Sie uns, gemeinsam mit Animal Rescue Kharkiv den Menschen und Tieren in der Ukraine zu helfen.