2006 kam es in einem Londoner Krankenhaus zu einem Pharma-Skandal: In einem Medikamententest für TGN1412 trat bei den freiwilligen Versuchsteilnehmern multiples Organversagen ein. Alle Teilnehmer schwebten in Lebensgefahr – und das, obwohl der Wirkstoff zuvor in Tierversuchen als harmlos eingestuft wurde.
Was ist TGN1412?
Der Antikörper TGN1412 wurde von einem Würzburger Biotechnologie-Unternehmen entwickelt und sollte dafür eingesetzt werden, Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose oder Rheuma zu behandeln. Nach vielversprechenden Tierversuchen und Zellkulturtests wurde der Wirkstoff zur klinischen Studie an Menschen freigegeben, an der acht Freiwillige teilnahmen.
Künstliche Beatmung, Koma und amputierte Finger und Zehen
Sechs Teilnehmern wurde TGN1412 verabreicht, zwei Teilnehmer erhielten zum Vergleich ein Placebo. Alle sechs Männer, die den Wirkstoff verabreicht bekamen, zeigten innerhalb der ersten Minuten heftige Reaktionen: zunächst Kopfschmerzen und Fieber, dann Erbrechen und Schmerzen am Rücken. Es wurde multiples Organversagen festgestellt. Die Probanden wurden künstlich beatmet und auf die Intensivstation verlegt, schwebten in Lebensgefahr.
Ein Patient lag mehr als zwei Wochen im Koma, und auch die anderen mussten wochenlang im Krankenhaus bleiben. Der am schlimmsten betroffene Patient konnte das Krankenhaus erst nach 3,5 Monaten verlassen. Seine Zehen und Teile seiner Finger mussten amputiert werden. Laut ärztlichen Stellungnahmen sind alle sechs Betroffenen nach dieser Katastrophe dem Risiko von Folgeerkrankungen ausgesetzt.
TGN1412 in Tierversuchen als gefahrlos eingestuft
Damit solche Fälle nicht eintreten, werden neue Wirkstoffe und Medikamente üblicherweise vor dem Test mit Menschen in Tierversuchen und mit Zellkulturen getestet. Den Teilnehmern der klinischen Studie wird auch nur eine minimale Dosis verabreicht, teils nur ein 500stel der Menge, die im Tierversuch als gefahrlos ermittelt wurde.
Trotzdem hatte TGN1412 ernsthafte lebensgefährliche Auswirkungen auf alle Probanden. Statt wie geplant die Immunreaktionen des Körpers zu bremsen, förderte der Wirkstoff Immunreaktionen und verursachte Organversagen.
Ergebnisse bei Ratten und Affen waren nicht auf Menschen übertragbar
Da sich die für TGN1412 relevanten Moleküle von Mäusen und Ratten deutlich von denen von Menschen unterscheiden, wurden die Nager nicht für Versuche mit TGN1412 herangezogen. Trotzdem wurden an Ratten Versuche mit einer abgeänderten Variante von TGN1412 durchgeführt – obwohl klar ist, dass die Ergebnisse aus Tierversuchen nicht unbedingt auf den Menschen übertragbar sind.
Tiere im Labor wachsen in einer nahezu keimfreien Umgebung auf. Die für TGN1412 wichtigen Zellen entwickeln sich allerdings erst durch Keimbelastung und verschiedene Infektionen im Laufe des Lebens. Da die Tiere im Versuch diese Zellen nicht entwickeln konnten, erzeugte TGN1412 keine Nebenwirkungen bei den Tieren.
Da die nötigen Moleküle von Makaken identisch mit den menschlichen sind, wurden diese Tiere ebenfalls in Versuchen für TGN1412 missbraucht. Forscher sagten, die Affen sind eine Möglichkeit, „sehr gute Hinweise auf die Wirkung des Antikörpers im Menschen“ zu geben [1]. Doch bei keinem der Tiere traten auch nur Anzeichen der Reaktionen auf, die sich beim Menschen zeigten – da die Affen die für die körperlichen Reaktionen verantwortlichen Moleküle auf natürliche Weise verlieren und sich zudem ihr Zellaufbau vom menschlichen unterscheidet.
Zellkulturtest war nicht aussagekräftig genug
Der Zellkulturtest sollte Reaktionen von menschlichen Zellen widerspiegeln. Dazu wurden isolierte Zellen aus Blut verwendet. Das Problem: Den Zellen fehlten bestimmte Signale, die im Körper von dicht mit Zellen besiedeltem Gewebe kommen. Dadurch lagen in der Zellkultur nur Zellen vor, die nicht auf TGN1412 reagierten – also inaktiv blieben und somit keine Nebenwirkungen zeigten.
Inzwischen gibt es weiterentwickelte In-vitro-Tests, bei denen die zytokinbezogene Immunreaktion des menschlichen Körpers vorhergesagt werden kann. Somit konnte eine Dosis TGN1412 ermittelt werden, die für den Menschen verträglich und wirksam sein könnte.
Tierversuche sind unnötig und grausam
Der Fall TGN1412 zeigt erneut deutlich, dass Tierversuche nicht nur grausam, sondern auch sinnlos sind. Die Ergebnisse sind fast nie auf den Menschen übertragbar. So ähnlich sich Mensch und Tier auch sein mögen – es müssen sich nur minimale Bedingungen unterscheiden, und schon kann es zu einer Katastrophe kommen.
Sicherlich ist auch eine einfache Zellkultur nicht die Lösung. Was gefördert werden muss, sind humanbasierte Modelle, die über Zellkulturtests hinausgehen; Modelle, die den menschlichen Organismus und die komplexen Zusammenhänge im menschlichen Körper abbilden und so eine effektive Forschung ermöglichen. Zahlreiche Beispiele humanbasierter Modelle, die bereits im Einsatz sind, zeigen, dass dies möglich ist.
Was Sie tun können
- Unterstützen Sie niemals Tierversuche und kaufen Sie ausschließlich tierversuchsfreie Kosmetik.
- Sprechen Sie auch mit Familie, Freunden und Bekannten über das Leid der Tiere im Versuchslabor und bitten Sie sie, ebenfalls auf tierversuchsfreie Produkte zu setzen.
- Unterstützen Sie den „Research Modernisation Deal“ – unseren Strategieplan zur Modernisierung der Forschung und zum Ausstieg aus Tierversuchen.
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Quellen
[1] Attarwala, H. (2010): TGN1412: From discovery to disaster. Journal of Young Pharmacists 2(3), 332–336. doi:10.4103/0975-1483.66810, https://www.ema.europa.eu/en/documents/scientific-guideline/guideline-strategies-identify-mitigate-risks-first-human-clinical-trials-investigational-medicinal_en.pdf, (eingesehen am 27.08.2020)