Wir alle haben Werte und Überzeugungen, die uns wichtig sind und mit denen wir uns identifizieren. Wir wollen in Übereinstimmung mit unseren Werten leben und beurteilen unser Verhalten und das anderer anhand dieser Maßstäbe. Doch wieso stimmen unsere Prinzipien teilweise nicht mit unserem Handeln überein? Hier eine Erläuterung dieses Phänomens – und was wir daraus lernen können.
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Wenn Werte und Verhalten nicht in Einklang stehen
Obgleich sich die allermeisten Menschen selbst als tierlieb bezeichnen und Tierleid ablehnen, werden Fleisch und andere tierische Produkte nach wie vor reichlich konsumiert – auch wenn dies erhebliche Tierqual verursacht. Der Konsum von Tierprodukten steht somit in direktem Widerspruch zu den inneren Überzeugungen der Menschen. Wie können wir Tiere lieben und Gewalt gegen sie ablehnen, aber sie gleichzeitig essen?
Der Schutz unserer Psyche, um uns nicht emotional mit dem Thema Tierkonsum befassen zu müssen, und die damit einhergehenden Abwehrreaktionen zur Rechtfertigung unseres Verhaltens werden als „kognitive Dissonanz“ bezeichnet. Dieser spezifische moralische Konflikt zwischen Mitgefühl und Lust nach Fleisch nennt man das „Fleisch-Paradox“. [1]
Karnismus und Speziesismus
Die Psychologin Melanie Joy hat den Begriff „Karnismus“ geprägt. Dieser beschreibt die unsichtbare, dem Menschen oftmals unbewusste Ideologie, wonach die Nutzung und der Verzehr bestimmter Tiere als ethisch vertretbar betrachtet werden. Laut Joy ist dies die dominante Weltanschauung der gegenwärtigen Gesellschaft. Sie prägt unsere Überzeugungen, Normen und Handlungen und läuft somit unserer angeborenen Empathie gegenüber Tieren zuwider.
Der Konsum tierischer Produkte ist keine kulturelle Gegebenheit, sondern eine Entscheidung – die jedoch nicht als solche wahrgenommen wird, sondern mit der Unsichtbarkeit des Karnismus erklärt werden kann. Dies führt dazu, dass Menschen oftmals nicht darüber nachdenken, warum sie Tiere überhaupt essen oder manche Lebewesen als „essbar“ einstufen und andere nicht.
Der Psychologe Richard Ryer prägte den Begriff Speziesismus, welcher die Zuschreibung von Werten und Rechten eines Individuums lediglich auf Grundlage seiner Spezieszugehörigkeit definiert. Speziesismus beschreibt also die Diskriminierung von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit – wohingegen Karnismus ein gesellschaftliches System bezeichnet, das solche Diskriminierungen und damit einhergehende Handlungen nicht nur ermöglicht, sondern sogar normalisiert.
Karnismus und Speziesismus fördern die systematische Ausbeutung von und Gewalt an Tieren. Sie haben die gleichen Grundstrukturen wie andere Unterdrückungssysteme, z. B. Rassismus und Sexismus, und verwenden eine Reihe psychologischer Abwehrmechanismen, die dazu führen, dass wir (unbewusst) gegen unsere Werte handeln. [2] [3]
So rechtfertigen Fleischesser ihren Konsum
Statt im Einklang mit den eigenen Werten zu leben und ihr Verhalten zu ändern, leugnen viele Menschen das Problem und wenden als Reaktion auf diesen inneren Konflikt verschiedene Vermeidungsstrategien an, darunter die folgenden [1]:
1. Dissoziation zwischen Tier und Endprodukt
Zwar wissen die Konsumenten, dass das Schnitzel auf ihrem Teller ein Stück Tierleiche ist, können sich jedoch emotional von dem damit verbundenen Tierleid distanzieren. Um den Konsum von Tieren zu rechtfertigen, werden diese nicht als Lebewesen betrachtet, sondern versachlicht (als Objekte behandelt) und entindividualisiert (keine einzelnen Lebewesen mit einer Persönlichkeit und Gefühlen, sondern eine anonyme Masse).
2. Tieren Eigenschaften absprechen
Eine weitere mögliche Form der Reaktion auf die kognitive Dissonanz ist ein Absprechen der Eigenschaften der Lebewesen. Fleischesser verneinen die Ähnlichkeit zwischen Tieren und Menschen, so beispielsweise die Tatsache, dass Tiere Schmerzen empfinden. Forscher fanden heraus, dass Probanden, die vor einer Fragereihe zur Empfindungsfähigkeit von Tieren Fleisch gegessen hatten, den Lebewesen einen geringeren moralischen Wert und weniger Empfindungen zuschrieben als diejenigen Versuchsteilnehmer, die im Vorfeld des Fragebogens Nüsse gegessen hatten.
Im Rahmen einer anderen Studie wurde untersucht, wie Probanden die geistigen Fähigkeiten von Tieren einschätzen und für wie essbar sie diese Tiere halten. Die Studie zeigte auf, dass die geistigen Eigenschaften der Tiere umso mehr abgewertet wurden, je höher die Konsumenten deren Essbarkeit einschätzten. [1] [2]
3. Man sieht sich als Opfer der Umstände, das sein Verhalten nicht ändern kann
Eine weitere Strategie der kognitiven Dissonanz besteht darin, das eigene Verhalten als quasi unvermeidbar zu verstehen. Man denkt beispielsweise, dass man keine andere Wahl hat, als zu rauchen, weil alle Freunde auch rauchen; oder dass man Fleisch essen muss, weil die vegane Ernährung ungesund oder sehr kompliziert sei. Dazu gehört auch, die Vielzahl an Informationen über die gesundheitlichen Vorteile der pflanzlichen Ernährung zu verdrängen und die Fülle an einfachen veganen Rezepten zu ignorieren, um diese Strategie aufrechterhalten zu können.
4. Relativierung der Problematik
Wer die kognitive Dissonanz mit Relativierung bekämpft, der legt sich Argumente zurecht, die aufzeigen sollen, dass die eigenen Werte und das eigene Verhalten angeblich doch in Einklang stehen. So beruft sich ein Raucher vielleicht darauf, dass ein Verwandter trotz langjährigen Rauchens sehr alt geworden oder gesund geblieben ist. Damit versucht er, den Widerspruch zwischen dem Wert der Gesundheit und dem Verhalten des Rauchens aufzulösen.
Beim Thema Tierprodukte relativieren viele Menschen ihren Konsum, indem sie sich einreden, dass ihnen das Tierwohl am Herzen liegt und sie deswegen beispielsweise nur Bio-Fleisch aus artgerechter Haltung oder generell nur wenig Fleisch essen. Dabei wird jedoch ausgeblendet, dass sogenannte Tierwohllabels oftmals reine Verbrauchertäuschung sind, die nur dazu dienen, das Gewissen der Verbraucher zu beruhigen. Und dass auch in der Bio-Haltung Tiere zu Profitzwecken genutzt und für unseren Konsum getötet werden.
Angesichts der Unstimmigkeit zwischen ihren Überzeugung und dem eigenen Verhalten umfassen die gängigen Reaktionen fleischessender Menschen daher oftmals eine Abschwächung ihres Mitgefühls mit Tieren sowie das Vorbringen von Scheinargumenten, die einen tierfreundlichen Lebensstil als unpraktikabel oder gar unmöglich erscheinen lassen.
Konfrontation mit Veganern
Wenn Omnivore vegan lebenden Menschen begegnen, bröckeln die selbstbetrügerischen Rechtfertigungen – und das sorgt erst einmal für einen Abwehrmechanismus. Bei diesem Zusammentreffen kommt es häufig zu einer durch das Fleisch-Paradoxon hervorgerufenen Reaktion von Stress und Wut, denn der fleischessende Mensch scheut die Bewusstwerdung des eigenen inkonsequenten Handelns und projiziert diese negativen Emotionen auf den vermeintlichen „Gegner“ bzw. die vegan lebende Person – die ihr Konsumverhalten seinen eigenen Werten bereits angepasst hat.
Ein Weg, damit umzugehen, ist beispielsweise, das Gegenüber auf persönlichem Level hart anzugehen, um sich nicht mit seinen Argumenten befassen zu müssen. Oder man unterstellt Inkonsequenz und möchte damit suggerieren, dass das Gegenüber ja auch nicht in vollem Einklang mit den eigenen Werten lebt. Aus diesem Grund erfreuen sich Medienberichte über die Umweltschädlichkeit von Lebensmitteln, die auch Veganer konsumieren, großer Beliebtheit. Dass die meisten vegan lebenden Menschen bei ihrem Einkauf großen Wert auf Nachhaltigkeit und Regionalität legen, wird dabei ignoriert oder bestritten – schließlich geht es darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen, um das eigene Verhalten nicht reflektieren zu müssen.
Fleischessende „Tierfreunde“ müssen dennoch anerkennen, dass es durchaus nicht schwer ist, pflanzlich zu leben und Tierliebe konsequent umzusetzen. Wenn mein Gegenüber am Tisch zudem gute Argumente hat und darüber hinaus noch nett und gar nicht so viel anders ist als ich, dann muss auch ich mir eingestehen, dass meine „Rechtfertigungen“ für den Konsum von Tierprodukten einer tiefergehenden Prüfung nicht standhalten.
Was lernen wir daraus?
Der Konsum von Fleisch, Milch und Eiern ist verantwortlich für immenses Tierleid, Umweltzerstörung und gesundheitliche Probleme. Zudem greifen Menschen, die tierische Produkte essen, häufig zu Abwehrmechanismen gegenüber sich selbst und pflanzlich lebenden Menschen, was psychischen Stress verursacht. Deshalb ist es wichtig, aggressives Verhalten oder Anfeindungen von fleischessenden Freunden und Bekannten nicht persönlich zu nehmen, sondern als einen Versuch zu verstehen, die durch die kognitive Dissonanz entstandene Irritation aufzulösen.
Im Gespräch mit Fleischessern sollten wir uns nicht provozieren zu lassen, sondern vielmehr auf die Kritik eingehen und den Fokus auf die Beweggründe der veganen Ernährung lenken. So können wir immer mehr Menschen dazu bewegen, gemäß ihren eigenen Werten zu leben und Tiere und deren Bedürfnisse zu respektieren.
Was Sie tun können
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Quellen
[1] Bedeutung Online: Was ist das „Fleisch-Paradox“? Bedeutung, Definition, https://www.bedeutungonline.de/was-ist-das-fleisch-paradox/ (eingesehen am 03.08.2020)
[2] ResearchGate: Warum wir Tiere essen (obwohl wir sie mögen): Sozialpsychologische Erklärungsansätze für das Fleischparadox, https://www.researchgate.net/publication/320696272_Warum_wir_Tiere_essen_obwohl_wir_sie_mogen_Sozialpsychologische_Erklarungsansatze_fur_das_Fleischparadox (eingesehen am 03.08.2020)
[3] Beyond Carnism: What is Carnism?, https://carnism.org/carnism/ (eingesehen am 03.08.2020)
[4] Science Direct: The role of meat consumption in the denial of moral status and mind to meat animals, https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0195666310003648 (eingesehen am 03.08.2020)